Es ist Donnerstag nachmittag Ende Juni 2008. Sommerliche Temperaturen, am Holocaust-Mahnmal gegenüber sind vereinzelte Besuchergruppen anzutreffen. Die Fanmeile zur Fußball-EM vor dem Brandenburger Tor ist zwar offen, es sind aber relativ wenige Besucherinnen und Besucher unterwegs. Dafür ist der Tierparkgarten komplett eingezäunt, der öffentliche Raum wird für das Spektakel der EM für die Öffentlichkeit geschlossen. Für das Homosexuellen-Mahnmal wurde eine Landzunge in den metallischen Bauzaun getrieben, was leicht absurd wirkt.
Das Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen liegt im Tierpark, ein kleiner, leicht gewundener Parkweg führt zu ihm. Grobsandiger Bodenbelag, dazwischen Rabatten mit Rindenmulch und Gewächsen, die irgendwann einmal Büsche werden könnten. Am Parkrand steht eine Gedenktafel mit einer kurzen Erläuterung. Das eigentliche Mahnmal ist ein grauer Hexaeder aus Beton, der schräg aus der Erde ragt. An der Besucherseite ist ein Fenster eingelassen. Im Inneren ist ein Film zu sehen, in dem sich zwei Männer küssen. Das Fenster auf der Vorderseite ist so hoch angebracht, so dass Kinder (und auch Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer) nicht hineinschauen können. Auf dem Fenster sind Spuren früherer Besucherinnen und Besucher: diese haben Abdrücke von Nasen und Händen hinterlassen, die bläulich und gelblich auf dem Glas schimmern.
Von der anderen Straßenseite ist eine Besuchergruppe zu sehen, die sich um das Sichtfenster schart. Meine erste Assoziation: Voyeurismus. Menschen beim Beobachten beobachten. Anhänger von Niklas Luhmanns Gedankengebäude hätten wahrscheinlich ihre Freude an so viel zweiter Ordnung. In mir erzeugt es dagegen ein unangenehmes Gefühl. War diese Wirkung beim Entwurf eingeplant?
Scheinbar hat sich grauer Beton als Baustoff für Mahnmale in Deutschland durchgesetzt: Der Gedächtnisturm im jüdischen Museum, das Eisenman/ Serra-Mahnmal und schließlich das Homosexuellen-Mahnmal. Gerade durch das Baumaterial wirkt es wie eine Referenz an das gegenüber befindliche Holocaust-Mahnmal. Eine verirrte, dickere Stele. Dieser Eindruck wird durch die Schräglage verstärkt – irgendwie wirkt das alles am Mahnmal gegenüber angelehnt – oder zugespitzt: abkopiert.
Nur fällt das Homosexuellen-Mahnmal von Michael Elmgreen und Ingar Dragset als Denkmal deutlich hinter das “Denkmal für die Ermordeten Juden Europas” zurück. Wo das Holocaust-Mahnmal mit der Idee der aufgebrochenen, begehbaren Skulptur (die auf den Einfluß Richard Serras zurückgeht) auf eine haptische Erfahrung setzt, ist das Homosexuellen-Mahnmal einzig auf den optischen Sinn zugeschnitten. Hingehen, heineinschauen, wieder gehen. Es scheint nicht vorgesehen zu sein, das Mahnmal zu umgehen oder es andersweitig als durch Anschauen zu erfassen. Es wird zwar auch beim Anschauen des Films notgedrungen berührt, nur wirkt hier die Berührung nicht als eingeplante Wirkung – anders als im dunklen Stelenfeld, dass die Besuchenden von der Außenwelt abschneidet, ihn oder sie vereinzelt und Sinneseindrücke reduziert.
Schon der Zugangsweg führt leicht gewunden durch vor das Mahnmal. Entweder kann man umdrehen und zurück zur Straße gehen oder weiter in den Park. Man steht vor der Frontseite des Mahnmals und kann heineinschauen. Ein Umrunden des Bauwerks ist nicht durch einen Weg eingeplant, die Rückseite ist ein toter Winkel. Damit fällt dieser Entwurf ein gutes Stück zurück in der historischen Entwicklung der “Gegendenkmäler” (J. E. Young) – gerade im direkten Vergleich zum gegenüberliegenden Mahnmal für die ermordeten Jüdinnen und Juden. Denn dieses fordert die körperliche Präsenz des einzelnen Besuchers und der einzelnen Besucherin und ein, während das Homosexuellen-Mahnmal wie klassische Mahnmale die Betrachtenden in eine passive Rolle zurückbefördert. Die Kontemplation wird hier nicht durch Gefühle von Erhabenheit wie beim klassischen Kriegsmahnmal erreicht, sondern durch das Starren durch das Sichtfenster.
Es liegt mir fern die scheinbar unvermittelte (Haptik) gegen die vermittelte (Optik) Erfahrung auszuspielen, aber die Umsetzung kann nicht überzeugen. Eine Skulptur mit multimedialen Elementen – das hätte definitiv mehr sein können, als durch einen Parkweg vor ein Sichtfenster in einem Betonklotz geleitet zu werden.
Dazu findet eine Reflexion des Denkmals als solchem nicht statt. Die Widersprüche, die von Gegendenkmälern offengelegt werden (die Unmöglichkeit mit Mitteln der Kunst den Holocaust zu repräsentieren, ihre eigene Entstehungsgeschichte, die Historizität des Ortes), werden hier zugekittet: Ein harmloser Film ersetzt die Auseinandersetzung mit dem Grauen. Und so wird auch nichts erklärt: Damals gab es halt Verfolgung, heute nicht mehr. Aha.
Alles in allem werde ich den Eindruck nicht los, dass es bei dem Mahnmal weniger um die Opfer des Nationalsozialismus geht (bzw. um ein ihnen angemessenes Gedenken), als um das Heute. Der Text der Gedenktafel kreist mehr um Fragen nach 1945, als um die Verfolgung im Nationalsozialismus. Auch durch die Tafel wird das Zurückfallen hinter den realisierten Entwurf Eisenman II sichtbar: dieser war so mutig, auf Paratexte (bis auf die nachträglich angebrachte Besucherordnung) zu verzichten und eine Erfahrbarkeit ohne erklärende Texte zu ermöglichen. Dagegen fallen beim Homosexuellen-Mahnmal Gedenktafel und Bauwerk auseinander – worin soll der Bezug zwischen beiden bestehen?
Das Motiv des Kusses unter Männern auf der Gedenktafel wird im derzeitigen Film aufgegriffen, das Private wird als politische Aussage verstanden.
Was bedeutet das? Im Zentrum der Bundeshauptstadt wird öffentlich ein Film mit küssenden Männern gezeigt. Aber was hat das mit den Verfolgten zu tun? Damals konnte man dafür interniert werden, heute ist es offensichtlich erlaubt. Diese Aussage mag zwar das Selbstverständnis einer liberalen Bundesrepublik repräsentieren, sagt aber wenig bis gar nichts über den Charakter der Verfolgung von Schwulen im Nationalsozialismus aus.
Früher tingelte die Loveparade ein paar Meter weiter über die Straße des 17. Juni und stellte dort das Private in einem öffentlichen Akt zur Schau. Und das war schon in der Mitte der 1990er Jahre die Verfallsform des schwul-lesbischen Protests der Jahrzehnte davor: mit dem Körper und seinen Praktiken an den Staat appellieren. Protest gegen gesellschaftliche Mißstände wurde als Praxis aber nicht inhaltlich rezipiert und kippte in affirmative Abfeierei der vermeintlich offenen Gesellschaft. Das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit kippte: das Private wird politisch, der Kuss in der Öffentlichkeit zum Fanal. Auch das sagt mehr aus über die heutige Artikulation politischer Anliegen mit Hilfe von lebensweltlichen Aspekte, aber wenig über den Nationalsozialismus.
Heute steht man vor dem Homosexuellen-Mahnmal und bestaunt dort sexuelle Praktiken. Warum wird hier “schwul” eigentlich mit 2 sich küssenden Männern repräsentiert bzw. darauf reduziert? Vermutlich entspricht dies dem Selbstverständnis der hegemonialen Schwulenverbände, die in die Auswahl des Films im Mahnmal involviert waren.
Und wieso eigentlich Film? Es ist kein pädagogischer Film einer Gedenkstätte, in dem Wissen vermittelt werden soll. Eher erinnert das Material an einen fiktiven Aufklärungsfilm aus dem Sexualkundeunterricht: so küssen sich Männer. Solange aber “Igitt”-Rufe beim Anblick küssender Männer zu vernehmen sind, bleibt dies eine sinnvolle, pädagogische Maßnahme. Wieweit aber ein angemessenes Gedenken an die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus realisiert wird, bleibt für mich offen.