Das Buch “Retromania” des Musikjournalisten Simon Reynolds ist in der englischen Version bereits 2011 erschienen. Die deutsche Übersetzung im Ventil Verlag ist soeben rausgekommen und zu diesem Ereignis wurde eine Lesereise mit Autor und Übersetzer organisiert. Der erste Station war am 14.10.2012 in Berlin im Monarch. Der stattliche Eintrittspreis war ok (so ein Reynolds muss schließlich aus L.A. eingeflogen werden), es war es dann eher mässig gefüllt. Dafür drängelte die Nachfolgeveranstaltung ab 22 Uhr an der Bar, die Lautstärke stieg, und die dicken HipHop-Kinder von Berlin überahmen den Laden. Reynolds wurde dann mal eben das Mic abgdreht und mit dem schnodderigen Spruch “Zeit aufzuhören, wa” kommentiert.
Reynolds eröffnet kurz und gab dann weiter an Übersetzer Chris Wilpert. Dieser las aus dem Kapitel “Der Aufstieg des Rock-Kurators” vor. Brian Eno sei schon in den 1980er Jahren auf die Figur des Kurators aufmerksam geworden, es erfolgte damit eine Abwertung des Künstlers: der kreative Schaffensakt sei weniger wichtig als das Auswählen vorhandenen Materials, des Neu-Zusammensetzens. Es ging kurz um die Bands Spacemen3, Primal Scream und The Jesus and Mary Chain. Sonic Youth seien besonders umtriebig als Kuratoren in den letzten 10 Jahren gewesen, wobei sie seit je starke Verbindungen in den Kunstbetrieb hatten.
Nach dem Kapital übernahm Reynolds und erläuterte den Prozess des Buches. Es war “a test, if people feel the same”. Hinterher gab es eine größere Debatte, auf Reynolds in dem Extrakapitel der deutschen Ausgabe einging, wo er sich an der Position der “Recreativity” abarbeitet. Einiges wurde mir hier auf einmal klar, was ich in der Lektüre von “Retromania” verpasst hatte. Reynolds schlägt sich doch auf die Seite des “Modernismus” – und sieht die “Recreativity” als Antiposition. Er wiedersprach der Idee, dass “alles schon mal dagewesen sei” und hielt da – allerdings zaghaft – das Künstlergenie dagegen. Ihn störe vor allem die Gewissheit der Vertreter der “Recreativity”, die fast schon an “articles of faith” grenzten. Brahms hätte nur Beethoven kopiert würde behauptet, aber das träfe nicht auf jede Idee zu – so Reynolds. Ihn störe diese zerstörerische Lust “to bring giants down to normal size”. Das Genie-Konzept wirke heute angestaubt und außerdem politisch dubios (insbesondere für politisch Linke).
Reynolds spielte den Remix eines Stevie Wonder-Titels vor. Harte Worte von ihm im Nebensatz “parasites on the original work”, also des riesigen Soundarchivs der alten Popperiode, wo die kollektive Arbeit von damals kannibalisiert wird.
Anschließend ging es um das L.A. Label “not not fun records” für ein zeitgenössisches Label, das Lofi-Retro-House machen würde, danach um die Talking Heads und das Buch von David Byrne. Und jetzt, wo ich versuche meine Notitzen auszuführen, fällt mir auf, warum ich mir mit Reynolds Stil schwer tue: er reiht Beispiel an Beispiel. Das mag ja interessant sein, tendiert aber auch dazu, dass der Überblick in der Fülle des Materials verloren geht. Dazu macht es Reynolds sich und den Lesern nicht einfach: er ist ein Zweifler, der sich Gewissenheit verweigert. Allerdings werden es bei ihm manchmal zu viele Grauschattierungen – Sinn von Theorie ist ja immer eine Schematisierung, eine Vereinfachung.
Die Diskussion war dann das übliche für Berliner Verhältnisse, worüber man lieber den Mantel des Schweigens hüllt. Reynolds meinte noch an einer Stelle, dass Garage Punk sich der modernsten Technologie damals bedient hätte, und heute eben Dubstep-Producer N.I. Massive verwenden würden.
Kauft man sich nochmal die deutsche Version mit dem Extrakapitel? Mal sehen. Mein Review der englischen Version mit dem schönen Titel “When Hell is full the Dead will Dance on your iPhone” gibt es in der der Zeitschrift Datacide, Ausgabe Nummer 12, online zu lesen unter Retromania Review.
Die besten Gedanken kommen nach Druckschluß und im Endeffekt die Frage: will Reynolds die Moderne retten? Vielleicht war ja das, was Reynolds beschreibt auch nur eine historische Phase im Kapitalismus: der Aufstieg und Fall der Musikindustrie, wie wir sie kannten mit den 5 großen Majors und vielen kleinen Labels. Wo ist Retro vor Rock und vor 1950? Das gibt es auch – etwa in Form von Burlesque – wird aber von Reynolds ausgeblendet. Vielleicht gehört wirklich Motown mit Ford zusammen und beides in die goldenen Jahre des Kapitalismus. Stattdessen postfordistische Dauerkrise. MTV got off the air aber Freude will sich nicht so richtig einstellen, irgendwie taugt Musik heute weder als Broterwerb für die Musikschaffenden selbst noch für die Konsumentinnen und Konsumenten: Hören als Datenstress in der Bewältigung des mp3-Ordners.